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Schwerpunktthema Unser Wald manatimagazin 24|01
Annäherung über die brachten die Menschen den Göttern Opfergaben, und
Funktionen des Waldes auch der christliche Glaube konnte dem Mythos Wald
wenig anhaben. Im „finsteren Wald“ des Mittelalters
Viel leichter, als den Wald allge- lebten Dämonen und Fabelwesen. In Sagen und Mär-
meingültig zu definieren, fällt die chen überdauerten sie sogar die Industrialisierung.
Aufzählung seiner Funktionen. Deren Umbrüche brachten die Epoche der Deutschen
Nach Angaben der gemeinnüt- Romantik hervor, die den Wald als unberührte Natur,
zigen „Stiftung Unternehmen heile Welt und Sehnsuchtsort verklärte.
Wald“ bieten die mitteleuropäi-
schen Buchenwälder Lebens- Die Romantisierung des ursprünglichen Naturzustan-
raum für rund 4.300 Pflanzen- des ist jedoch ein Trugbild. „In der Natur ist nichts sta-
und Pilzarten sowie mehr als bil, das gefällt uns aber nicht, weil es unsere eigene
6.700 Tierarten. Eine ausgewach- Endlichkeit aufzeigt“, sagt Jörg Beckmann, Forstwis-
sene Buche produziert täglich senschaftler und Biologischer Leiter des Tiergartens
Sauerstoff für 64 Menschen. Nürnberg. Er könne es nicht akzeptieren, dass die Na-
Laubwälder geben jedes Jahr bis tur als ein Ort ohne menschliche Eingriffe definiert sei.
zu 15 Tonnen Sauerstoff pro Hek- „Der Mensch gehört zum Wald wie das Reh, er ist ein
tar an die Atmosphäre ab, Nadel- Teil der Evolution.“ Gegen eine verantwortliche und
wälder das doppelte. nachhaltige Nutzung sei nichts einzuwenden. „Das
spannende am Thema Wald ist für mich die Langfris-
Deutschlands Wälder liefern tigkeit. Alles was wir heute machen, braucht Jahrzehn-
jährlich rund 60 Millionen Ku- te oder gar Jahrhunderte, bis es sich auswirkt“, sagt
bikmeter Holz als nachwach- Beckmann.
senden Rohstoff. Der Wald ver-
hindert Bodenerosion, filtert bis
zu 50 Tonnen Staub und Ruß pro
Artenarm Menschengemachte seiner sich gegenseitig beeinflussenden und oft voneinander abhängigen Hektar und Jahr aus der Luft und gleicht Temperatur-
Monokulturen stehen oft in der biologischen, physikalischen und chemischen Bestandteile, das praktisch unterschiede aus. Im Sommer kann es im Wald drei
Kritik. Dieser finnische Wald von der obersten Krone bis hinunter zu den äußersten Wurzelspitzen reicht. bis sechs Grad kühler als im Umland und vier bis acht
besteht praktisch auch nur aus Kennzeichnend ist die konkurrenzbedingte Vorherrschaft der Bäume. Da- Grad kühler als in Städten sein. Man muss weder Bäu-
Birken (Betula spec.), dies jedoch durch entsteht auch ein Waldbinnenklima, das sich wesentlich von dem me umarmen noch „Waldbaden“, um im Wald Ruhe,
von Natur aus. des Freilandes unterscheidet. Dieses kann sich nur bei einer Mindesthöhe, Erholung und gesunde Luft zu finden.
Mindestfläche und Mindestdichte der Bäume entwickeln.“
Ein Kubikmeter Waldboden speichert bis zu 200 Liter
Weltweit lassen sich vier Vegetationstypen unterscheiden: Tropische Re- Wasser, die damit schon nicht mehr für verheerende
genwälder machen 45 Prozent aller Waldgebiete aus, gefolgt von borealen Flutkatastrophen zur Verfügung stehen. 33 Prozent
Wäldern (27 Prozent) – also solche in subpolaren Breiten –, temperierten (16 des jährlichen Niederschlags von 920 Millimetern
Prozent) und subtropischen (11 Prozent) Wäldern. Der WWF Deutschland un- tragen in Fichtenmonokulturen zur Grundwasserneu-
terscheidet zwischen „natürlich regenerierenden Wäldern“ (93 Prozent) und bildung bei. In Buchenwäldern sind es 47 Prozent von
„gepflanzten Wäldern“ (7 Prozent), wobei letztere stark zunehmen. Als Ur- 930 Millimetern Jahresniederschlag. Jeder Hektar des
wälder gelten Gebiete, die „vom Menschen unberührt geblieben sind oder deutschen Waldes speichert 114 Tonnen Kohlenstoff.
deren Nutzung keine langfristigen Spuren hinterlassen haben.“ Dieser vielfältige Nutzen für Natur und Mensch lässt
sich in Zahlen ausdrücken und als Ökosystemleistung
Es gehört nicht viel Geschichtskenntnis dazu, um festzustellen, dass es in zusammenfassen.
Deutschland schon seit langer Zeit keine Urwälder mehr gibt. Die Sehn-
sucht nach der unberührten Natur lebt aber in Erzählungen fort. Karl F.
Sinner (1946 – 2017), langjähriger Leiter der Nationalparkverwaltung Baye- Ort der Mythen und Legenden, aber kein
rischer Wald, hat einmal bei einem Vortrag in Nürnberg vermutet, dass das romantisches Idyll
Märchen „Hänsel und Gretel“ eine Erinnerung an den Urwald konserviert
habe. Denn nur im chaotischen Baum- und Strauchgewirr des Urwaldes sei Immateriell und mit nichts zu beziffern ist dagegen
es nötig, einen Weg zu markieren, der zurück in die Zivilisation führe. Unse- die kulturelle Bedeutung des verholzten Ökosystems.
re Wirtschaftswälder seien dagegen von zahlreichen Wald- und Rückewe- Der „deutsche Wald“ war schon identitätsstiftend
gen durchzogen, auf denen das Holz zur nächsten Siedlung transportiert lange bevor ihn die Nazis für ihre menschenverach-
werde. Der Weg aus einem Wirtschaftswald sei nicht schwer zu finden. tende Ideologie missbrauchten. In heiligen Hainen Scheinbares Idyll Irrhain bei Nürnberg
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