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Schwerpunktthema Freie Natur?                     manatimagazin 24|02




 wie Ochsen und Pferde dagegen waren verlässliche  verbrennt oder ein Spätfrost mit minus fünf Grad die   Nutztiere, Haustiere, Wildtiere  Familienmitglied – Seit rund drei Jahrzehnten beobachten
 und unerlässliche Helfer bei der schweren Landarbeit.  ersten Knospen einfriert – wir können uns auch mit   Forscher den Trend, Haustiere in die Familie zu integrieren.
 Sie waren Nahrungs- und Wärmequelle – und Kapital.  Glasfassaden jenseits der Unbill der Natur immer die   Gefährlich oder wunderschön – für unsere Nutztiere  Mit Nutztieren und ihrer Verarbeitung haben dagegen nur
 Zugleich brauchten sie Futter und dafür Weideland,  Wohlfühltemperatur schaffen, die uns zusagt.  legen wir diese Kriterien nicht an. In unserer hoch- noch wenige Menschen zu tun.
 das die Bauern oft erst schaffen und erhalten muss-  spezialisierten Gesellschaft haben ohnehin nur noch
 ten, indem sie Bäume fällten. In Europa nutzten sie  Drei Viertel der Menschen in Deutschland wohnen in   sehr wenige direkt mit ihnen und der Produktion
 das Holz zum Bauen ihrer Häuser und Ställe und zum  Städten sowie deren Umland – und durchschnittlich   unserer tierischen und pflanzlichen Nahrungsmit-
 Heizen. Auf diese Weise entstanden zum Beispiel die  22 Kilometer entfernt von einem größeren natürlichen   tel zu tun. 2022 lebten laut Umweltbundesamt in
 Almen, die heute Landwirte und Naturschützer als die  Gebiet, wie der Biodiversitätsforscher Dr. Victor Cazalis   Deutschland nur noch zwei Prozent der Erwerbstäti-
 ältesten und äußerst artenreichen Kulturlandschaften  zusammen mit Kolleginnen des Deutschen Zentrums   gen von der Landwirtschaft. Außer Jägern, Metzgern
 Bayerns zu erhalten versuchen.   für  integrative Biodiversitätsforschung  (iDiv)  ausge-  und Mitarbeitern von Schlachthöfen weiß kaum noch
 rechnet hat. Damit liegt die deutsche Gesellschaft in   jemand, wie man ein totes Schwein in die Teile zer-
 Lebensraum Stadt oder:     einem globalen Trend: Derzeit lebt die Hälfte der Welt-  legt, die es später sauber verpackt im Supermarkt
 Wo treffen wir noch auf Natur?  bevölkerung laut Vereinten Nationen (UNO) in Städten,   als Schnitzel, Kotelett oder Bratwurst zu kaufen gibt.
 bis 2050 sollen es drei Viertel sein. Zugleich gehen die   Zugleich haben wir unsere domestizierten Nutztie-
 Die Abhängigkeit von regional verfügbaren Rohstoffen  Grünflächen in den urbanen Zentren nach Cazalis‘ Stu-  re ebenfalls spezialisiert und auf Effizienz getrimmt:
 haben wir inzwischen im Zuge des globalen Handels  die zurück.   Entsprechend unserem Bedarf setzen sie besonders
 und durch die industrielle Produktion von Waren über-  schnell Fleisch an, liefern besonders warmes Fell oder
 wunden. Gerade im Bausektor hat letztere vor allem  Die Natur verschwindet aus der Kultur  legen besonders viele Eier. Betriebswirtschaftlich op-
 seit den 1950er Jahren die Art, wie wir wohnen, massiv   timiert geben Zuchtrinder entweder viel Fleisch oder
 verändert. „Präindustriell hat man so gebaut, wie es  Die Wissenschaftler wollten darin herausfinden, ob   viel Milch, statt von beidem etwas. Ähnlich verhält es
 der Ort hergegeben hat“, sagt Aline Gruber, Bauinge- es wissenschaftliche Beweise für das gibt, was der   sich bei Zuchthühnern: Entweder die schnelle, dicke
 nieurin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Insti- Naturforscher Robert M. Pyle als „Extinction of Expe-  Hühnerbrust oder ein paar Monate lang hunderte von
 tut für Baubetriebswesen der Technischen Universität  rience“ bezeichnet hat: Das Aussterben direkter Na-  Eiern, ehe das Tier ersetzt wird.   wir ihnen zugestehen, wird sich am deutlichsten zei-
 Dresden.  „Man hat  die Materialien  genommen, die  turerfahrungen. Die Studienlage dazu ist laut Cazalis   gen, wie viel Wildnis wir in unserer Umwelt zuzulassen
 günstig und verfügbar waren, so wie Holz, Ziegel oder  dünn, doch neben der zunehmenden räumlichen Ent-  An  Haustiere  stellen  wir  andere  Bedingungen:  „Die  bereit sind. Und ob das Bild der idealen, harmonischen
 Lehm. Man hat sich der Natur angepasst und so ge- fernung vieler Menschen zu Naturgebieten gebe es   Tiere, die wir uns als Haustiere ins Haus holen, sollen  Natur Bestand hat.
 baut, dass es zu den klimatischen Verhältnissen passt.“  durchaus klare Hinweise: „In den vergangenen zwei   schön sein und am besten nicht so stinken“, sagt Um-
 Denn die größte Funktion des Wohnens sei seit jeher  Jahrzehnten sind zum Beispiel die Referenzen auf Na-  weltsoziologe Matthias Groß. „Die ästhetisch schöne  Dass jede und jeder Zugang zu natürlichen Orten hat,
 die Schutzfunktion vor dem Wetter.  „Mit den hoch- tur in kulturellen Werken wie Büchern oder Filmen –   Vorstellung von dem, was Natur ist, spiegelt sich auch  ist unabdingbar dafür, Wissen über die Natur zu ver-
 technisierten Gebäuden, wie wir sie heute bauen, set- etwa von Disney – signifikant zurückgegangen“, sagt   wieder im Zurückholen ins Haus dessen, was wir als  mitteln. „Wenn du in der Natur bist, erlebst du sie mit
 zen wir uns über die klimatischen Rahmenbedingun- er. „Wenn die Natur aus der Volkskultur verschwin-  Natur erachten.“ Häufig seien Umbruchsituationen in  allen Sinnen, du hörst, du riechst sie“, sagt Biodiversi-
 gen hinweg.“ Egal, ob die Sonne bei 35 Grad die Wiese  det, bedeutet das, dass es eine Unterbrechung der   Biographien der Moment, in dem Menschen sich ein  tätsforscher Victor Cazalis. „Wenn du dir einen Natur-
 Verbindung gibt.“ Eine Entwick-  Haustier anschaffen. „Den Trend, Haustiere als Fami- film ansiehst, hast du diese Erfahrung nicht. Entschei-
 lung, die für Cazalis auch eine   lienmitglieder zu integrieren, kann man seit zirka 30  dend dafür ist auch die Zeit: Es wird dich nicht auf die
 Eingefügt – Vor der Industrialisierung griffen Menschen in   große Zahl häufig sehr ästhe-  Jahren ziemlich deutlich sehen.“ So ähnelten Diskus- gleiche Weise berühren, wenn du dir ein paar Minuten
 unserem Kulturraum zum Bauen auf regional verfügbare   tischer Naturfotos und  -videos    sionen darüber, ob sich ein Paar einen Hund anschafft,  ein Video ansiehst, wie wenn du einen Tag draußen in
 Rohstoffe zurück. Häuser und Ställe erschienen so wie ein   auf Social-Media-Kanälen nicht   streckenweise denen über die Entscheidung für oder  der Natur bist. Wahrscheinlich ist beides nötig.“ Denn
 natürlicher Teil der Landschaft.  ausgleichen kann. Selbst dann,   gegen ein Baby. Nur: „Ein Kind hat man tendenziell für  auch, wenn es sie kaum noch gibt, sei es wichtig, sich
 wenn diese möglicherweise   immer. Bei einem Hund ist die Lebenszeit überschau- die Bilder einer weitgehend intakten Natur zu bewah-
 durch die zusätzliche Vermitt-  bar – das passt auch in eine schnelllebigere Zeit, in der  ren, findet Cazalis. Das Idealbild einer unberührten
 lung von Wissen über Natur-  Beziehungen nicht mehr so lange halten wie früher.“   Natur sollte dabei keine passive Sehnsucht sein. Son-
 schutz  einen  positiven  Effekt                             dern ein Ansporn, unsere Umwelt als vielfältigen und
 haben könnten. Doch einige   Anders als die kontrollierte Wildnis zuhause wollen  lebenswerten Ort zu gestalten. Einen Lebensraum, von
 Posts zeichneten ein verzerrtes   wir Wildtiere in der „freien Natur“ sehen. Auch, wenn  dem auch wir ein Bestandteil sind und in dem wir wie-
 Bild von Natur.  „Ich habe den   es diese wegen menschlicher Aktivitäten kaum noch  der Natur erfahren können, von deren Überleben das
 Eindruck, dass Natur dort ent-  gibt. Am Umgang mit Wildtieren und dem Raum, den  unsere immer abhängen wird.
 weder als etwas sehr Gefähr-
 liches dargestellt wird oder, im
 Gegenteil, als wunderschön und   Quellen
 perfekt – das kann die Sichtwei-  Soga, Masashi; Gaston, Kevin J.: „Extinction of Experience: the loss of human-nature interactions.“ The Ecological Society of America, Seiten 94-101.
 se von Menschen auf die Natur   Kesebir, Selin; Kesebir, Pelin: „A growing disconnection from nature is evident in cultural products“. Perspective on Pychological Science, Seiten 258-269.
 beeinflussen.“   Hallmann, Sylke; Klöckner, Christian A.; Beisenkamp; Kuhlmann, Ulrike: „Freiheit, Ästhetik oder Bedrohung? Wie Kinder Natur bewerten.“ Umweltpsy-
              chologie, Seiten 88-108.
             Cazalis V., Loreau M., Barragan-Jason G. (2022). A global synthesis on trends in human experience of nature. Frontiers in Ecology and the Environment,
              Seiten 85-93.
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