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Schwerpunktthema Freie Natur?                                                                                                                                   manatimagazin 24|02



                                                                                                                                            GRENZENLOSE WILDNIS


             Beim Klimaschutz für den Sektor Verkehr wäre ein
             Tempolimit auf Autobahnen eine einfache Sofort-                                                                                IM RAHMEN DER MÖGLICHKEITEN
             maßnahme. Hätten Sie einen ähnlichen Vorschlag
             zur Verbesserung des Artenschutzes in der Land-
             wirtschaft?                                                                                                                    Nationalparke sollen natürliche Dynamik zulassen. In einem von Kulturland-
                                                                                                                                            schaften geprägten und vergleichsweise kleinen Land wie Deutschland birgt
             Es ist nicht so einfach, weil es um private Betriebe                                                                           das enorme emotionale, rationale und praktische Herausforderungen. Die
             geht. Spontan fällt mir der fünf Meter breite Gewäs-                                                                           Gesellschaft muss als Ziel festlegen, wie viel Wildnis sie zulassen will.
             serrandstreifen ein. Er verhindert die Bodenerosion
             in das Gewässer sowie den Eintrag von Stickstoff und                                                                           Anna Böhm
             Pestiziden. Diese Streifen sind Lebensraumkorrido-
             re. Aber natürlich wird dem Landwirt ein Stück Acker                                                                                 hristine Schopf atmet tief ein. Sie  der Fläche der insgesamt 13 deutschen Na-
             weggenommen. Dafür müsste es einen fairen Aus-                                                                                       steht auf einem schmalen Waldweg  tionalparke gelingen  – einschließlich  einer
             gleich geben. Am besten diskutiert man solche Maß-  Intensiver Gemüseanbau im Knoblauchsland bei Nürnberg                      Cinmitten von Tannen, Fichten und Bu- möglichst  ungestörten  Entwicklung  von
             nahmen auf regionaler Ebene mit den Landwirten vor                                                                             chen, durch deren Blätterdach das Sonnen- Wildtierbeständen.
             Ort.                                                                                                                           licht scheint – einem Waldstück wie aus dem
                                                                                                                                            Bilderbuch. „Essig“, sagt sie, steuert auf eine  Die Natur Natur sein lassen: Ein Ansatz, der
             Der NABU ist mit rund 940.000 Mitgliedern Deutsch- Seit Anfang der 1990er Jahre arbeiten wir am Natura                         Fichte zu und deutet auf die grünen Nadeln,  Konflikte zwischen Gefühl und Vernunft mit
             lands größter Naturschutzverband. Werden Sie poli- 2000 Netzwerk der europäischen Schutzgebiete. Man                           die auf dem Boden liegen. „Wenn der Borken- sich  bringen  kann. Und insbesondere eine
             tisch noch gehört?                               muss für den Naturschutz Zeit aufbringen. Die Natur                           käfer eine Fichte befallen hat, mischt sich  Herausforderung in einem Land wie Deutsch-
                                                              wurde über Jahrhunderte als unkalkulierbarer Geg-                             unter den Harz- ein leichter Essiggeruch.“ Zu- land, das von Kulturlandschaften geprägt ist
             Gehört werden wir auf jeden Fall. Wir merken aber,  ner wahrgenommen. Lebensmittelsicherheit war das                           erst sieht sie die grünen Nadeln, dann riecht  und in dem keiner der Nationalparke auf einer
             dass die Menschen bei den Wahlen momentan andere  oberste Ziel. Heute sprechen wir über Zivilisations-                         sie den Käfer. Christine Schopf kennt ihn gut:  vom Menschen unberührten Natur aufbaut.
             Sorgen haben. Während 2019 Fragen wie Insektenster- krankheiten. Es fällt der Gesellschaft nicht leicht, die                   sie arbeitet seit 30 Jahren als Rangerin im Na- Natürliche Dynamik in Schutzgebieten mit
             ben und Klima bei den Menschen stark präsent waren,  Ernährungsgewohnheiten abzulegen. Wir essen mo-                           tionalpark Bayerischer Wald. Zwei von bisher  einer Größe zwischen 7.500 Hektar (Hainich)
             geht es momentan um die Wirtschaft und die Infla- mentan in Deutschland rund 50 Kilogramm Fleisch                      Schwerpunktthema Freie Natur?  drei großen Borkenkäferbefall-Ereignissen  und gut 32.000 Hektar (Müritz) muss einge-
             tion. Wir sehen aber auch, wenn alle drei Monate ein  pro Nase – vom Säugling bis zum Greis, inklusive aller                   hat sie dort miterlebt. Und das bange Gefühl  bettet werden in landwirtschaftliche Flächen,
             Jahrhunderthochwasser kommt, dass unsere Themen  Vegetarier und Veganer. Die Ärzte empfehlen ungefähr                          beim Anblick Tausender Hektar abgestorbe- Wirtschaftswälder, Privatgrund, Dörfer, Städ-
             nach wie vor da sind. Unsere Rolle als NABU besteht  die Hälfte. Eine gesunde Ernährung könnte so einfach                      ner Fichten: „Alles, was du kennst und was  te, Straßen  – und all die  damit zusammen-
             darin, mit Ruhe die richtigen fachlichen Konzepte und  sein, und wir würden damit unsere Ökosysteme schüt-                     für dich Heimat bedeutet, scheint verloren  hängenden Beschränkungen und Interessen.
             Lösungen einzufordern. Wenn sich irgendwann wieder  zen. Aber wir Menschen sind eben nicht so einfach, lo-                     zu gehen“, beschreibt sie es. Ist alles aus dem
             ein Fenster auftut, können wir sie anbieten.     gisch und sachorientiert.                                                     Gleichgewicht geraten?


                                                                                                                                            „Die Frage ist, ob es in der Natur überhaupt
                                                                                                                                            einen Gleichgewichtszustand gibt“, sagt Dr.
                                                                                                                                            Marco Heurich, Sachgebietsleiter für Na-
                                                                                                                                            tionalparkmonitoring und Tierfreigelände
                                                                                                                                            sowie Professor für Wildtierökologie und
                                                                                                                                            Naturschutzbiologie  an  der  Albert-Ludwigs-
                                                                                                                                            Universität  Freiburg.  „Natur  ist  hochgradig
                                                                                                                                            dynamisch, auch mit Störungen wie zum Bei-
                                                                                                                                            spiel bei uns dem Borkenkäfer, Krankheiten
                                                                                                                                            oder genetischen Faktoren. Der Nationalpark
                                                                                                                                            ist ein großes Freilandlaboratorium, in dem
                                                                                                                                            wir beobachten, wie sich die Natur unter den
                                                                                                                                            aktuellen klimatischen und sonstigen Vor-
                                                                                                                                            aussetzungen entwickelt – und daraus auch
                                                                                                                                            lernen.“ Etwa, ob und wie der Wald sich nach
                                                                                                                                            einem großflächigen Borkenkäferbefall selbst
                                                                                        Bodenbrüter – Entwässerung und                      regeneriert. Diese Dynamik zuzulassen soll  Spur der Verwüstung? Drei große Borkenkäferereignisse gab es bisher
                                                                                        der Verlust von Feuchtwiesen                        nach den Richtlinien  der Weltnaturschutz- im Nationalpark Bayerischer Wald. Dort wächst nun ein Mischwald
                                                                                        machen dem Kiebitz zu schaffen.                     union IUCN perspektivisch auf je 75 Prozent  nach. Hier steht ein Rothirschkalb inmitten abgestorbener Fichten.



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