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Schwerpunktthema Freie Natur?                                       Regulator – Große Beutegreifer wie Wolf oder Luchs können
                                                                     dazu beitragen, Schalenwildbestände stabil und
                                                                     möglicherweise auch invasive Arten in Schach zu halten.
 Ein Luchs (Lynx lynx), der ein Streifgebiet von  mit er keine Wirtschaftswälder befällt. Sie   „Große Beutegreifer sind ein sehr spannendes
 10.000 Hektar benötigt, fragt jedoch ebenso  pflanzen gezielt bedrohte, heimische Baum-  Thema“, sagt er. Auch im Zusammenhang
 wenig nach den Grenzen eines Nationalparks  arten und sie regulieren die Schalenwild-  mit der Ausbreitung invasiver Arten wie etwa
 wie ein Rothirsch (Cervus elaphus), der 5.000  bestände durch Jagd. Also zum Beispiel Reh,   dem Marderhund oder dem Waschbären. „Es
 Hektar durchwandert. Und einer Rotte von  Rothirsch, Damhirsch, Mufflon, Gams oder   besteht die Hypothese, dass ein intaktes
 Wildschweinen (Sus scrofa) ist es gänzlich  Wildschwein, deren Hufe oder Klauen „Scha-  Ökosystem mit natürlichen Prädatoren wie
 egal, wem der Mais gehört, der komfortabel  len“ genannt werden. Dabei geht es zum   Wolf oder Luchs stabiler ist und invasive
 und köstlich am Waldrand wächst. Borken- einen darum, Verbiss- und Schälschäden   Arten dort nicht die Wirkung haben, die sie
 käfer wiederum, Parasiten wie der Amerika- an jungen Bäumen auf angrenzenden Ge-  andernorts entfalten.“ Luchse werden gezielt
 nische Leberegel oder Krankheitserreger wie  bieten zu vermeiden. Aber auch darum, der   ausgewildert, die Tiere kommen unter ande-
 das Afrikanische Schweinepest-Virus interes- Verbreitung der Afrikanischen Schweinepest   rem auch  aus  dem Tiergarten  Nürnberg.  In
 sieren sich nicht dafür, ob sie sich in einem  entgegenzuwirken. Doch auch in den Kern-  fünf Nationalparks kommen sie inzwischen
 Schutzgebiet oder einem Wirtschaftswald  zonen, in denen die Jagd verboten ist, greifen   wieder dauerhaft oder temporär vor. In zehn   WISSEN AUF
 verbreiten. Inwiefern unsichtbare Umwelt- die Nationalparkverwaltungen ein: Durch   Nationalparks wurden bereits Wölfe (Canis
 gifte und andere Schadstoffe auch die Kern- Fütterung verhindern sie, dass Schalenwild   lupus) nachgewiesen – in sechs davon dauer-  EINEN BLICK
 zonen  erreichen,  untersuchen  derzeit  Wis- in den Wintermonaten auf der Suche nach   haft, in den anderen vorübergehend.
 senschaftlerinnen und Wissenschaftler  der  Nahrung  aus dem  Schutzgebiet  herauswan-
 Ludwig-Maximilians-Universität München  dert, wie es das natürlicherweise tun würde.   Marco Heurich hofft, dass sie mit der Wieder-  In Deutschland gibt es derzeit 16 Nationalparke.
 im Bayerischen Wald.  Die strikte Trennung zwischen dem Eingriff in   ansiedelung des Wolfs zunehmend auch die   Als ältester und größter Waldnationalpark
 Kern- und Managementzonen ist längst noch   Bejagung des Rotwildes zurückfahren können.   wurde der Bayerische Wald 1970 gegründet und
 nicht in jedem Nationalpark Realität. Bislang   Wölfe jagen gezielt ältere und schwächere Tie-  fortan – soweit möglich – mit dem Leitsatz
 wird sie außer im Bayerischen Wald im Na-  re und tragen so zu einer gesunden Rotwild-  „Natur Natur sein lassen“ verwaltet. Der 1978
 tionalpark Berchtesgaden gelebt. Nach den   population bei. Es wäre im Sinne der natür-  gegründete Nationalpark Berchtesgaden ist der
 Borkenkäfer-Ereignissen  wächst  im  Bayeri-  lichen Dynamik. Doch festzulegen, was das   zweitälteste und der einzige deutsche Natio-
 schen Wald ein Mischwald nach. „Wir haben   Erreichen der Ziele kosten darf oder wann sie   nalpark in den Alpen. Der Nationalpark Hainich
 gesehen, dass die Natur sich verändern und   verletzt werden, ist nicht einfach. „Diese Ziele   ist mit 7.500 Hektar der kleinste, in dem sich
 reagieren kann – aus Störungen kann wieder   müssen auch gesellschaftlich verhandelt wer-  jedoch die größte nutzungsfreie Laubbaum-
 etwas Wunderbares entstehen“, sagt Christi-  den“, sagt er. „Bei allem, was mit Wildtieren   fläche Deutschlands findet. Mit knapp 25.000
 ne Schopf heute.    zusammenhängt, spielen Emotionen eine sehr      Hektar ist der Harz einer der größten National-
                     große Rolle. Insgesamt wäre es schön, wenn      parke, ebenso der gut 32.000 Hektar umfas-
 Damit Entscheidungen zum Management von   es eine größere Toleranz gegenüber Wildtieren   sende Nationalpark Müritz. Die flächenmäßig
 Wildtierpopulationen und zum Eingriff in die   gäbe. Denn eigentlich ist es faszinierend, dass   größten Nationalparke sind die drei Watten-
 Flora auf einer rationalen Basis getroffen wer-  es in unserer Landschaft, die hochgradig vom   meernationalparke. Darüber hinaus gibt es
 den können, setzen Marco Heurich und seine   Menschen verändert und bewirtschaftet wird,   noch die Nationalparke Sächsische Schweiz,
 Kolleginnen und Kollegen aus dem Bayeri-  immer noch ganz viele Arten gibt, die sich an   Kellerwald Edersee, Hunsrück-Hochwald,
 schen Wald und anderen Nationalparken auf   uns anpassen können, die zurechtkommen,   Schwarzwald, Unteres Odertal, Vorpommer-
 die systematische Erhebung von Daten. Um   ohne dass wir uns um sie kümmern – und die   sche Boddenlandschaft und den Nationalpark
 einen Überblick über den Schalenwildbestand   niemandem gehören.“   Jasmund.
 und seinen Zustand zu bekommen, haben sie
 Systematische Neugier – Nationalparkverantwortliche setzen    Gebiete des Nationalparks in Raster aufgeteilt
 auf die großflächige Erfassung von Wildtierpopulationen.    und systematisch mit Fotofallen ausgestattet.
 Hier schnuppert ein Wildschwein an einer von vielen    Da sie damit keine Individuen unterscheiden   Quellen
 Wildtierkameras im Bayerischen Wald.  können, bedarf es komplizierter Rechenmo-  Ehrhart, Stefan; Lang, Johannes; Simon, Olaf, Hohmann, Ulf; Stier, Norman; Nitze, Mark; Heurich, Marco; Wotschikowsky, Ulrich; Burghardt, Friedrich;
 delle, um Rückschlüsse auf die Population zu   Gerner, Jutta; Schraml, Ulrich: „Schalenwildmanagement in deutschen Waldnationalparken: Analyse und Empfehlungen“. Natur und Landschaft, 93.
 Zwischen Kulturlandschaft und natürlicher   ziehen. Einfacher ist es bei Luchsen: Sie sind   Jahrgang 2018, Heft 11, Seiten 485-493.
 Dynamik  durch die Zeichnung ihres Fells klar vonein-  van Beeck Calkoen, Suzanne; Heurich, Marco: „Einfluss von großen Beutegreifern auf die Nahrungssuche des Rothirschs“. Anliegen Natur 44 (1),
 ander zu unterscheiden. Im Bayerischen Wald   online preview.
 Für sicht- und greifbare Herausforderungen   leben derzeit 19 bis 33 Luchse – Jungtiere nicht   Henrich, Maik; Kühl, Hjalmar; Heurich, Marco: „Reh- und Rotwildbestände mit Fotofallen bestimmen“. AFZ-Der Wald, 21/2022, Seiten 24-28.
 sollen sogenannte Managementzonen wie   mitgezählt.  Die Nationalparkverwaltung  hat   Fiderer, Christian; Storch, Ilse; Heurich, Marco: „Schalenwildmonitoring in den deutschen Nationalparken – Teil 1“. AFZ – Der Wald, 22/2023, Seiten 29-31.
 ein Puffer zwischen den Kulturlandschaf-  2012 die Bejagung von Rehen eingestellt, um   Fiderer, Christian; Kupferschmid, Andrea Doris; Storch, Ilse; Heurich, Marco: „Schalenwildmonitoring in deutschen Nationalparken – Teil 2“.
 ten  und den  Kernzonen  der Nationalparke   die  Populationsentwicklung  unter  natur-  AFZ – Der Wald, 22/2023, Seiten 32-34.
 wirken. In den Managementzonen ergreifen   nahen Bedingungen zu beobachten. Bisher   Velling, Marc; Franke, Frederik; Peterka, Tomás; Junková Vymyslická, Pavla; Mokry, Jan; Starý, Martin; Peters, Wibke; Heurich, Marco: „Gefahr für den
 die Nationalparkverwaltungen Maßnahmen   konnten Marco Heurich und Kollegen keine   Rothirsch? Der Amerikanische Leberegel“. AFZ – Der Wald. 22/2023. Seiten 39 – 42.
 gegen die Ausbreitung des Borkenkäfers, da-  Veränderungen im Bestand feststellen.  Person, Malin: „Entwicklung und aktueller Stand des Schalenwildmanagements in deutschen Nationalparken“. Bachelorarbeit vorgelegt an der
               Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Fakultät für Umwelt und natürliche Ressourcen. 17.5.2024.

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