Page 29 - Manatimagazin 23/01
P. 29

Schwerpunktthema Die menschliche Dimension im Artenschutz  manatimagazin 23|01




 JEDER UND JEDE EINZELNE IST GEFRAGT, DEN


 DRAMATISCHEN  ARTENSCHWUND AUFZUHALTEN


 Inzwischen ist das begehrte Grün demokratischer geworden. In den USA ist Gras
 nach Mais und Weizen die meistverbreitete Nutzpflanze. In Deutschland erwartet
 der Marktdatenanbieter Statista im Segment Rasen & Garten für das Jahr 2023 einen
 Umsatz von etwa 13,03 Mrd. Euro. Mit anderen Worten: Jeder Deutsche gibt für Spe-  Indikator Manche Flechten
 zialsamen, Dünger, Moosvernichter, Vertikutierer, Bewässerungsanlagen, große, klei-  sind auf trockene, nährstoff-
 ne und automatisierte Rasenmäher, sowie andere Artikel des Gartenbedarfs im Jahr   arme Böden angewiesen und
 durchschnittlich etwa 155,61 Euro aus.  bieten einen wertvollen Le-
 bensraum für viele Tierarten.
 Niemand möchte Kindern das Fußballspiel erschweren, doch jenseits solcher ökologisch   Durch Nährstoffeinträge aus
 wertloser Nutzflächen dürfte noch genügend Raum für blühende Wildblumenwiesen   der Luft und die Aufgabe der
 sein, die unzähligen Lebewesen Nahrung und Lebensraum bieten. Leider blühen die   historischen Streunutzung
 sind sie allerdings stark be-
 meisten Wildkräuter nur kurz. Und eine Stimme aus der Jungsteinzeit drängt uns, den   droht.
 „ungepflegten“ Garten zu bearbeiten.


 Forstbetriebsleiter Johannes Wurm, zuständig für rund 24.000 Hektar Reichswald,
 weiß ein Lied davon zu singen. Auf Bürgerversammlungen begegnet er regelmäßig
 zwei Fraktionen. Die einen beklagen sich über den „unordentlichen“ Wald, für die
 anderen  kann  nicht  genügend  Totholz  herumliegen.  „Mit  der  multifunktionalen
 Forstwirtschaft versuchen wir, alle gesellschaftlichen Ansprüche unter einen Hut zu
 bringen“, sagt Wurm.

 Zu den Ökosystemleistungen des Waldes gehören Sauerstoffproduktion, Kohlen-
 stoffspeicherung und Bodenbildung, Luftreinhaltung, Kühlung und Trinkwasserbil-
 dung, die Förderung der Biodiversität und die Erholungsfunktion. „Im Reichswald
 kommen wir durchschnittlich auf vier Waldfunktionen pro Hektar“, sagt Wurm.
                     Die Anstrengungen beispielsweise von Forstbehörden oder Zoologischen Gärten reichen in-
 Als Peter Stromer (um 1315 – 1388) 1368 im Lorenzer Reichswald die weltweit erste   zwischen aber nicht mehr aus, um den dramatischen Artenschwund aufzuhalten. Jede und
 planmäßige Forstkultur anlegte, geschah dies aus Holznot. Auch der 1713 von Hans   jeder Einzelne ist gefragt. „Den Zoos fehlen einfach die Kapazitäten“, sagt Björn Encke, Ge-
 Carl von Carlowitz (1645  – 1714) geprägte Nachhaltigkeitsbegriff bezog sich aus-  schäftsführer von Frogs & Friends e.V. und der Citizen Conservation Foundation gGmbH. Letz-
 schließlich auf die forstliche Nutzung des Waldes. Heute verstehen wir darunter das   tere wurde 2018 als ein Gemeinschaftsprojekt von Frogs & Friends, dem Verband der Zoologi-
 Prinzip, nachdem nicht mehr verbraucht werden darf, als durch Regeneration oder   schen Gärten e.V. (VdZ) und der Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde
 Wachstum bereitgestellt werden kann. Eine ökologisch nachhaltige Waldnutzung   e.V. (DGHT) ins Leben gerufen.
 darf niemals zu Artenschwund führen.
                     Citizen Conservation (CC) hat es sich zur Aufgabe gemacht, private und hauptberufliche Tier-
 Die Bayerischen Staatsforsten seien auf vielen Feldern aktiv, sagt Wurm. Der Sebal-  halter zu vernetzen. Während Säugetiere bei den europäischen Erhaltungszuchtprogrammen
 der, Lorenzer und südliche Reichswald umfasst auf einer Fläche von 38.000 Hektar   (EAZA Ex-situ Programme, EEP) verhältnismäßig gut vertreten sind, sieht es bei kleineren Tier-
 das größte Vogelschutzgebiet Bayerns. Hier lebt der seltene Mittelspecht (Leiopicus   arten und insbesondere bei Amphibien sehr schlecht aus. „CC übernimmt mit privaten Mit-
 medius), der auf abgestorbene Äste der Kronenregion angewiesen ist.   teln die eigentlich hoheitliche Aufgabe des Artenschutzes“, sagt Encke.

 Auch für Ziegenmelker (Caprimulgus europaeus), Baumpieper (Anthus trivialis) und   Die Organisation koordiniert momentan 13 Amphibien- und vier Fischarten bei bei mehr als
 Heidelerche (Lullula arborea) trägt der Reichswald eine besondere Verantwortung.   100 Tierhaltern. Zwei Drittel sind Privatleute, der Rest verteilt sich auf Zoos und Institutionen.
 Die Charaktervögel lichter, nährstoffarmer Flechten-Kiefernwälder kommen im Na-  Alle privaten Züchter haben ihre fachliche Kompetenz nachgewiesen. Mit Blick auf die ge-
 turschutzgebiet südlich von Leinburg vor. Im Rahmen eines Naturschutzprojektes   sellschaftliche Akzeptanz dieses integrativen Erhaltungszuchtprogramms bleiben alle Tiere
 wurde dort auf einer Fläche von etwa drei Hektar der Oberboden abgetragen. Die   im Eigentum von CC.
 Maßnahme simuliert die jahrhundertelang betriebene Streunutzung, bei der die
 oberste nährstoffreiche Bodenschicht für Einstreu und Dünger aus dem Wald geholt   Eine Datenbank soll die Kommunikation unter den Haltern erleichtern und Erfahrungen zu-
 wurde. Ohne den Eingriff würde der Boden immer nährstoffreicher und die Zahl der   gänglich machen. Viele Züchter hätten keine Nachfolger, sagt Encke. „Wenn sie sterben, ist ihr
 Flechten ginge immer weiter zurück.  ganzes Wissen weg.“





 28                                                         29
   24   25   26   27   28   29   30   31   32   33   34