Page 16 - Manatimagazin 23/02
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Schwerpunktthema Auswilderung




             Aus wenigen Gründertieren ist eine stabile population erwachsen
             Um den Überblick über die gehaltenen Wisente und deren Verwandtschaftsbezie-
             hungen nicht zu verlieren, wurde das erste Zuchtbuch einer Wildtierart ins Leben
             gerufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es der Zoo Warschau übernommen. Damit
             die Gene des einzigen Kaukasuswisents nicht verloren gehen, wurde er mit in die
             Zucht aufgenommen, wobei im Zuchtbuch die reinrassige Flachlandlinie und die Mi-
             schlinie mit dem Blut des Kaukasuswisents separat geführt werden.

             Dank der erfolgreichen Zucht konnten 1952 die ersten Wisente nach Białowieża zu-
             rückgebracht und fünf Jahre später auch ausgewildert werden.

             Heute führt der Nationalpark Białowieża das Zuchtbuch. Das Management der Wisen-
             te wird vom European Bison Conservation Center und dem EAZA Ex-situ Programme
             (EEP) durchgeführt. Ende 2021 waren 9.558 Individuen gelistet, von denen noch 1.805
             in Zoos und Wildgehegen als sichere Reserve leben und dort auch der Bildungs- und
             Forschungsarbeit dienen. Die überwiegende Mehrzahl von 7.753 Wisenten leben
             nicht eingezäunt in Schutzgebieten oder naturnah in eingezäunten Arealen, die sich
             vor allem in Polen, Belarus und Russland befinden, aber auch in der Ukraine, Bulgari-
             en, Rumänien, Slowakei, Deutschland und den baltischen Staaten. Der neu errichtete
             Grenzzaun zwischen Polen und Belarus hält jedoch nicht nur Menschen davon ab,
             unkontrolliert die Grenze zur EU zu überschreiten, sondern auch die Wisente.


             Trotz dieser hohen Zahlen wird beim Wisent nach wie vor über mögliche negative
             Auswirkungen des „genetischen Flaschenhalses“, bedingt durch die geringe Zahl an
             Gründertieren (Founder), diskutiert. Andere Bespiele wie der Mauritiusfalke (Falco
             punctatus), bei dem es nur sechs Founder gab, oder
             der Milu (Elaphurus davidianus) mit fünf oder weni-
             ger Foundern legen nahe, dass auch bei den Wisenten
             Gelassenheit angesagt ist. Dazu kommt, dass bei all
             diesen Arten keine Chance auf weitere Gründertiere
             besteht und sich damit eine Diskussion weitgehend
             erübrigt. Besonders eindrucksvoll ist auch das Beispiel
             des Syrischen Goldhamsters (Mesocricetus auratus): Bis
             1970 gingen alle zigtausend Individuen, die als Haus-
             tiere auf der ganzen Welt gehalten wurden, auf nur ein
             Gründertier zurück, ein tragendes Weibchen aus dem
             Jahr 1930. Erst seit 1971 wurden vereinzelt neue Foun-
             der aus Syrien eingekreuzt.

             Rückkehr des Wisents nach Deutschland                                     Bedeutender fund
             Auch in Deutschland gibt es wieder Wisente außerhalb von Gehegen. Begleitet von  7,2 Zentimeter lang und
             diversen gerichtlichen Auseinandersetzungen wurde 2013 der Zaun eines Eingewöh-  5,25 Zentimeter hoch:
             nungsgeheges geöffnet, die ersten zwei Wisente wurden wieder in der Natur geboren.  Der geschnitzte Wisent
             2019 sollte ein für andere Tiere durchlässiger Zaun den Lebensraum der Herde für zu-  aus der Vogelherdhöhle
             nächst drei bis fünf Jahre auf ein Gebiet von 1.500 Hektar Fläche begrenzen. Die Idee  zählt zu den ältesten
             wurde jedoch 2021 verworfen, da der Zaun nicht durchsetzbar war. Im Juli 2023 umfass-  plastischen Tierdarstellun-
             te die Herde im Rothaargebirge rund 40 Tiere - mittlerweile hat sie sich geteilt.  gen der Menschheit.

             Der Wisent spielt auch in der Kultur des Menschen in Europa eine wichtige Rolle. Ei-
             nes der ältesten von Menschenhand gefertigten Kunstwerke wurde in der Vogelherd-
             höhle auf der Schwäbischen Alb entdeckt: ein aus Mammutelfenbein geschnitzter
             Wisent, rund 40.000 Jahre alt. Weitere Skulpturen und Höhlenmalereien, besonders
             in Spanien und Südfrankreich begleiteten die Menschen über viele Jahrtausende.





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