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Sozialstruktur
Tiere ihren Bedürfnissen entsprechend zu halten, ge-
hört zu den wichtigsten Aufgaben moderner Tier-
haltung. Dabei spielt es eine entscheidende Rolle, in
welchem Sozialgefüge die Tiere leben – dieses ist von
Art zu Art unterschiedlich: Während Wölfe und Löwen
im Rudel leben, kommen Tiger und Bären meist nur
zur Paarung zusammen. Gorillas werden von einem
Männchen – dem Silberrücken – angeführt; Paviane
hingegen zeichnen sich durch gemischtgeschlechtli-
che Gemeinschaften aus, die aus mehreren Männchen
und Weibchen mit Jungtieren bestehen, sogenannte Training
Fission-Fusion-Gemeinschaften. Durch Erfahrungen „Wenn sie sich verletzen und eine medizinische Be-
in Zoos und Beobachtungen in der Wildbahn kommen handlung nötig ist, bedeutet das für ein so scheues
immer neue Erkenntnisse dazu, die auch Einzug in die Wildtier eigentlich so gut wie immer eine Narkose“,
Haltungsformen finden – zum Beispiel in Form von sagt Tierpflegerin und Revierleiterin Katharina Rippl
Vergesellschaftungen: Im Tiergarten bilden beispiels- über die Waldrentiere (Rangifer tarandus fennicus), die
weise Blauschafe (Pseudois nayaur) und Mishmi-Takine seit Sommer 2024 unter dem Klimawaldpfad leben.
(Budorcas taxicolor) eine „Himalaya-WG“, Böhmzebras Die Rentiere verletzen sich leicht; die Basthaut, die
(Equus quagga boehmi) und Elenantilopen (Taurotragus das Geweih während des Wachstums umgibt, gilt als
oryx) teilen sich die Afrikaweide. besonders empfindlich. Da jede Narkose Stress für die
Da Tierpflegerinnen und Tierpfleger das Verhalten Tiere bedeutet, haben Katharina Rippl und ihr Team
der Tiere in Zoos das gesamte Jahr über genau be- begonnen, die Rentiere so zu trainieren, dass sie sich
obachten können, entwickeln sie ein immer umfas- „freiwillig“ untersuchen und behandeln lassen.
senderes soziales Verständnis von Tieren. Anders als „Wir haben im Tiergarten bereits viel Erfahrung mit
früher sind Mendes-Antilopen (Addax nasomaculatus) medizinischem Training, basierend auf dem Prinzip der
und Somali-Wildesel (Equus africanus somalicus) in positiven Verstärkung: Klauenpflege bei den Giraffen,
Nürnberg heute so oft wie möglich zusammen auf der Ultraschall bei den Delfinen, Röntgen beim männ-
Anlage – auch nachts. „Entgegen früheren Befürch- lichen Hirscheber. All diese Untersuchungen und Be-
tungen sind die Hengste weniger aggressiv und tre- handlungen sind schon seit vielen Jahren ohne Narko-
ten sogar als Streitschlichter auf“, sagt Tiergartendi- se möglich“, erklärt Ramona Such.
rektor Dr. Dag Encke. „Die nächste Herausforderung Bei den Waldrentieren hingegen standen die Tierpfle-
für moderne Zootierhaltung besteht nun darin, die gerinnen und -pfleger ganz am Anfang. „Wir wollten
sozialen Bedürfnisse von Einzelgängern zu erken- es erstmal auf die klassische Weise versuchen – also
nen.“ Denn Beobachtungen in der Wildbahn zeigen, mit einer Belohnung, wenn das Tier das gewünschte
dass auch weitgehend solitär oder paarweise leben- Verhalten zeigt. Da lag aber schon das erste Problem:
de Tiere wie Gibbons in nahrungsreichen Zeiten in Waldrentiere sind sehr wählerisch und wir haben kein
großen Gruppen zusammenkommen. Leckerli gefunden, das die Tiere zum Mitmachen an-
gespornt hätte“, sagt Katharina Rippl. Sie und und
Ihr Team haben das Training schließlich umstruktu-
riert und versucht, Routinen zu schaffen. „Am Mor-
gen haben wir uns mit frischem Moos und Pellets
zu den Rentieren gestellt und signalisiert: Egal, was
wir machen, du darfst hier in Ruhe fressen – ein safe
space sozusagen.“ Der neue Ansatz war erfolgreich:
Die Pflegerinnen und Pfleger konnten die Tiere mit der
Zeit berühren, sie an Desinfektionsspray und Spritzen
gewöhnen. Katharina Rippel: „So hat sich das Puzzle
Stück für Stück zusammengefügt, bis wir die Tiere
schließlich von Hand impfen und bei einem Tier sogar
Blut nehmen konnten. Soweit ich weiß, hat das bis-
lang noch kein Zoo ohne Narkose geschafft.“
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