Arten- und Lebensraumschutz: Tiergarten unterstützt Kulan-Wiederansiedelung
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Sie gelten als die stärksten Greifvögel der Welt und in verschiedenen Kulturen als mythische Wesen: Harpyien (Harpia harpyia). Nichts von alldem schützt sie davor, dass ihr Bestand in der Natur sinkt – weswegen die Weltnaturschutzunion IUCN sie als gefährdete Art einstuft. Der Tiergarten Nürnberg setzt sich daher für ein koordiniertes Zuchtprogramm ein und freut sich über ein gesundes Harpyien-Jungtier.
Das Küken ist Mitte Oktober 2023 geschlüpft. „In den ersten Tagen haben wir mit der Pinzette zugefüttert, weil die Mutter noch etwas unbeholfen war und die Fleischstückchen nicht ausreichend zerkleinert hatte“, erzählt Tierpflegerin Jessica Liebel. In der Natur ernähren sich Harpyien von größeren Säugetieren wie zum Beispiel verschiedenen Affenarten, Faultieren, Opossums, Baumstachlern oder Ameisenbären. Im Tiergarten gibt es für sie Kaninchen, Meerschweinchen und andere Nagetiere sowie das Fleisch von Huftieren. Nach wenigen Tagen kümmerte sich Mutter Evita selbst um das Jungtier, das mittlerweile kräftig zugelegt hat und drei Kilogramm wiegt.
Es ist der erste Harpyien-Nachwuchs in Nürnberg seit 20 Jahren und der erste des Altvogelpaares Evita und Jorge, die seit 2020 zusammen sind. Seitdem hatte Evita 13 Eier gelegt, von denen sechs befruchtet waren. Fünf der Küken sind vor dem Schlupf gestorben. Die Zucht von Harpyien ist sehr anspruchsvoll. Ein Grund dafür ist die Luft: Anders als in den Regenwäldern Süd- und Mittelamerikas, wo Harpyien natürlicherweise leben, ist sie bei uns vergleichsweise trocken. „Das kann dazu führen, dass die Flüssigkeit im Ei zu schnell verdunstet“, sagt Tierpflegerin und Revierleiterin Susann Müller. „Deswegen kann eine Naturbrut heikel sein, da das Ei zu schnell an Gewicht und Feuchtigkeit verliert. Der Brüter ist oft der sicherere Weg.“
Im Brüter liegen die Eier bei 37 Grad Celsius und werden mehrmals täglich automatisch sowie zusätzlich von den Tierpflegerinnen und pflegern gewendet. Die Luftfeuchtigkeit kann dort je nach Bedarf angepasst werden. Das nun geschlüpfte Küken haben ausschließlich die Altvögel ausgebrütet. Doch auch hier haben die Tiergartenmitarbeitenden nachgeholfen: Mit Wachs haben sie ein kleines Loch in der Eierschale geschlossen und so verhindert, dass Keime eindringen und Feuchtigkeit entweicht.
Anders als viele andere Vogelarten haben Harpyien keine saisonalen Paarungs- und Fortpflanzungszeiten. Bis ein Küken schlüpft, dauert es durchschnittlich 52 bis 58 Tage. Harpyien können bis zu 40 Jahre alt werden, mit zirka sechs erreichen sie die Geschlechtsreife und ziehen von da an in der Natur etwa alle drei Jahre ein Jungtier groß.
Diese vergleichsweise langen Fortpflanzungszyklen verleihen der Einstufung der Harpyien als gefährdete Art zusätzliche Brisanz: Denn ihr Lebensraum wird schneller zerstört, als sie sich anpassen und fortpflanzen können.
Die Urwaldriesen, auf denen die Vögel in mehreren Dutzend Metern Höhe nisten, sind bei illegal agierenden Holzhändlern beliebt. Regenwälder werden gerodet und durch industriell bewirtschaftete Monokulturen fragmentiert. Menschliche Infrastruktur, die mit dem oft illegalen Abbau von Rohstoffen und der Landwirtschaft einhergeht, frisst sich immer tiefer in die Verbreitungsgebiete der Harpyien.
Sobald eine Art, die sich so langsam fortpflanzt wie die Harpyie, als vom Aussterben bedroht gilt, wird es schwieriger, ihr Ende zu verhindern. Deshalb setzt sich der Tiergarten Nürnberg für eine koordinierte Zucht der Tiere ein. „Wir sehen schon jetzt, dass die Population dieser Tiere in der Natur abnimmt“, sagt Dr. Lorenzo von Fersen, Kurator für Artenschutz und Forschung im Tiergarten Nürnberg. „Ein großes Ziel ist es daher, ein koordiniertes Zuchtprogramm aufzubauen, an dem sich nicht nur europäische Zoos, sondern auch solche aus Nord, Mittel- und Südamerika beteiligen“.
Seit vielen Jahren engagiert sich der Tiergarten Nürnberg zudem auch aktiv in Erhaltungsmaßnahmen vor Ort, indem er vor allem brasilianische Wissenschaftler bei der Durchführung genetischer Studien an der Art unterstützt. Eine weitere wichtige Aufgabe des Zoos ist es, alle Maßnahmen vorzubereiten, die notwendig sind, wenn stark bedrohte Arten in Not sind.
Dr. Lorenzo von Fersen erklärt: „Die künstliche Befruchtung ist eines der Instrumente, an denen wir arbeiten. Zusammen mit Dr. Dominik Fischer, dem Kurator für Forschung und Artenschutz im Grünen Zoo Wuppertal, wurden erste Schritte in diese Richtung unternommen und die Ergebnisse sind sehr vielversprechend.“
Der Tiergarten Nürnberg hält seit 1980 Harpyien. Das damalige Paar kam durch eine Beschlagnahmung aus einer Privathaltung in die Obhut des Zoos. Heute leben im Tiergarten und auf seiner Außenstelle Gut Mittelbüg insgesamt sechs Harpyien. In vier europäischen Zoos gibt es derzeit nur zehn Harpyien. Von den Nürnberger Tieren ist nur eines für Besucherinnen und Besucher sichtbar: Domingo, der im Bereich der Greifvögel oberhalb der Bartgeiervoliere zu finden ist.
Auch der Jungvogel wird nicht für Besucherinnen und Besucher zu sehen sein. Bilder finden sie aber hier.