Das Bartgeierpaar im Tiergarten der Stadt Nürnberg hat erneut ein Küken aus der Eulen- und Greifvogelstation Haringsee in Österreich adoptiert. Das Jungtier ist am Montag, 4. März 2024, geschlüpft und im Alter von wenigen Tagen von erfahrenen Pflegerinnen und Pflegern nach Nürnberg gebracht worden. Hier hat es das Bartgeierpaar (Gypaetus barbatus) sofort angenommen und begonnen, es zu füttern und zu wärmen.
Aktuell sind die Greifvögel in der Voliere im oberen Teil des Tiergartens zu sehen, die 2016 mit Unterstützung des Vereins der Tiergartenfreunde Nürnberg e. V. gebaut wurde.
„Es ist toll, dass unser Bartgeierpaar nun zum zweiten Mal in Folge ein Adoptivküken großzieht, nachdem es mit dem eigenen Nachwuchs leider nicht geklappt hat“, sagt Tierpfleger und Revierleiter Thorsten Krist. Im Frühjahr 2023 hatten die beiden ebenfalls ein Bartgeierküken aus Haringsee umsorgt, bis es im Juni 2023 mit dem Namen „Nepumuk“ in den Berchtesgadener Alpen ausgewildert wurde.
„Der zweite Einsatz unseres Paars als Adoptiveltern zeigt, wie gut die Zusammenarbeit im Erhaltungszuchtprogramm für Bartgeier zwischen verschiedensten Einrichtungen in ganz Europa funktioniert“, sagt Tiergarten-Kuratorin Diana Koch.
Das nun adoptierte Küken entstammt einer genetisch wertvollen Linie und soll im Rahmen des Europäischen Erhaltungszuchtprogramms EEP (EAZA ex-Situ Programme) weiter züchten – voraussichtlich im Tiergarten Nürnberg oder auf seiner Außenstelle Gut Mittelbüg. Dort baut der Tiergarten mit Unterstützung des Vereins der Tiergartenfreunde Nürnberg e. V. zwei Zuchtvolieren, die im Lauf des Jahres bezogen werden können.
Küken eines Gründertiers
Der Vater des Kükens ist eines der ersten Tiere des EEP für Bartgeier. „Er ist ein sehr wichtiger Founder, dessen Linie unbedingt im BartgeierEEP erhalten bleiben soll“, sagt Dr. Hans Frey, Leiter und Gründer der Zuchtstation Haringsee. Der Vogel kam zunächst verletzt in den tadschikischen Dushanbe Zoo und von dort über mehrere Stationen in Russland und Österreich in die Zuchtstation nach Haringsee.
Dort verpaarte er sich in dieser Brutsaison 2023/2024 erfolgreich mit einem neuen Weibchen, das aus dem Zoo Frankfurt nach Haringsee gekommen war. „Die beiden Eier mussten allerdings aus dem Nest genommen werden, weil der Vater damit zu spielen begann“, erzählt Dr. Frey. Daher wurden sie in einen Brutschrank gelegt, in dem das nun adoptierte Küken dann problemlos schlüpfte. Bis zu seiner Ankunft in Nürnberg hatte es bereits knapp 100 Gramm zugenommen und wog 236 Gramm.
Auch das Nürnberger Bartgeierweibchen hatte in diesem Jahr ein Ei gelegt, das aber kurz vor dem Ende der zirka 54-tägigen Brutzeit im Nest zerbrochen ist. Es war befruchtet, der Embryo war jedoch bereits Wochen zuvor abgestorben. Tiergartenmitarbeitende haben dem Paar zwei Kunsteier untergeschoben, damit es weiter brütet für den Fall, dass es wieder ein Küken adoptieren soll.
Kurz darauf kam die Anfrage aus Haringsee. „Das Alter des nun adoptierten Kükens passt ideal“, sagt Thorsten Krist. „Es ist nur wenige Tage vor dem für das Nürnberger Küken errechneten Schlupftermin zur Welt gekommen.“ Es ist ein Männchen.
Mit der Zucht der majestätischen Greifvögel tragen Zoos und Zuchtstationen zum Erhalt der Art bei. Anfang des 20. Jahrhunderts galt der Bartgeier in den Alpen als ausgerottet. Dank des unermüdlichen Engagements und der engen Zusammenarbeit von Arten- und Naturschützern konnte dort seit 1986 wieder eine Population von derzeit zirka 300 Tieren aufgebaut werden – darunter 60 Zuchtpaare. 1993 ist das Zuchtprojekt für Bartgeier in ein EEP überführt worden, das von der Vulture Conservation Foundation mit Sitz in Zürich geleitet wird.
Zucht und Adoption tragen zum Arterhalt bei
Der Tiergarten Nürnberg hält – mit kurzen Unterbrechungen – seit 1965 Bartgeier und beteiligt sich seit seiner Gründung an diesem Zuchtprojekt. Drei der vier Küken des aktuellen Nürnberger Bartgeierpaars, die groß gezogen wurden, wurden im Rahmen des EEP ausgewildert. „Das Brutpaar im Tiergarten Nürnberg ist eines der ältesten im ganzen Zuchtnetz. Auch wenn es mit dem eigenen Nachwuchs nicht geklappt hat, kann es dennoch die überaus wichtige Rolle der Adoptiveltern erfüllen“, sagt Diana Koch.
Denn dank der Ammeneltern überleben mehr Jungvögel, die für Zucht und Auswilderung eingesetzt werden können. Die Adoption durch die Tiere ist zudem entscheidend, um eine Fehlprägung zu verhindern: Sowohl die in den Volieren gehaltenen Vögel als auch solche, die ausgewildert werden, sollen Menschen meiden.
Bartgeier legen in der Regel im Abstand von zirka zehn Tagen zwei Eier pro Saison. Schlüpfen beide Jungvögel, so überlebt in der Natur in der Regel nur das ältere. Das jüngere Küken wird normalerweise entweder vom älteren getötet oder es verhungert, weil es sich gegen das ältere Geschwister nicht durchsetzen kann. Dieses Verhalten, auch Kainismus genannt, ist für die Art völlig normal.
Der Tiergarten unterstützt mit seiner Zucht und seiner Infrastruktur unter anderem das gemeinsame Projekt des Landesbunds für Vogelund Naturschutz in Bayern e. V. (LBV) und des Nationalparks Berchtesgaden, in dessen Rahmen jährlich über zehn Jahre hinweg zwei Bartgeier in den Ostalpen ausgewildert werden.