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Ökologischer Wert von Aas: Tiergarten beteiligt sich mit totem Wisent an Forschungsprojekt

Tote Tiere, die voller Leben stecken: Kadaver von Wildtieren haben einen hohen ökologischen Wert und sind wahre Hotspots der Biodiversität. Um auf diesem Gebiet weiterführende Erkenntnisse zu gewinnen, beteiligt sich der Tiergarten der Stadt Nürnberg an einem Forschungsprojekt zum ökologischen Wert von Aas in verschiedenen Lebensraumtypen von Großschutzgebieten. Gemeinsam mit dem Nationalpark Bayerischer Wald, dem Nationalpark Šumava und der Julius-Maximilians-Universität Würzburg hat er dazu Ende Juli 2024 einen toten Wisentbullen (Bison bonasus) im tschechischen Šumava-Nationalpark ausgelegt. Dabei handelt es sich um die erste Auslegung eines Wisentkadavers unter gezielter wissenschaftlicher Beprobung und Beobachtung in Mitteleuropa.

Über zwei Monate hinweg protokollierten die Wissenschaftler den Zerfallsprozess. Nun haben sie die ersten Ergebnisse ausgewertet und dabei erstmals die Schmeißfliege Chrysomya albiceps im Nationalpark Šumava entdeckt.

Neue Dimension der Forschungsarbeit im Tiergarten

"Als moderner Zoo gehören Artenschutz und Forschung zu den wichtigsten Säulen unserer Arbeit. Indem wir Individuen oder ganze Arten wieder in der Natur ansiedeln, bringen wir auch ihre jeweilige ökologische Funktion zurück, beispielsweise als Beutegreifer, Aasfresser oder Verbreiter von Samen", sagt Jörg Beckmann, stellvertretender Direktor und Biologischer Leiter des Tiergartens Nürnberg. "Der Wert eines Tieres fürs Ökosystem geht dabei über seinen Tod hinaus. Mit der erstmaligen Auslegung eines Wisentkadavers erweitern wir unseren Forschungsbereich um eine völlig neue Dimension und können so einen Beitrag zur weiteren Erforschung des ökologischen Werts von Aas leisten."

Der Wisentbulle aus dem Tiergarten Nürnberg wurde 2023 im Alter von etwa einem Jahr tierschutzkonform getötet. Das Tier wurde als Ganzkörper eingefroren und Ende Juli 2024 mit allen behördlichen Genehmigungen in den Nationalpark Šumava gebracht, der direkt an den Bayerischen Wald angrenzt.

"Ein solches Projekt bedarf einer langen und sorgfältigen Vorbereitung. Ohne das Veterinäramt der Stadt Nürnberg, das uns bei dem Vorhaben von Beginn an sehr unterstützt hat, wäre die Auslegung nicht möglich gewesen", ergänzt Beckmann. Wäre das Projekt nicht zustande gekommen, hätte der Tiergarten den Wisent an andere Zootiere verfüttert.

Hotspots der Biodiversität und Baustein im Nährstoffkreislauf

In und an einem Kadaver tummeln sich viele Organismen: Bakterien, Pilze - das sogenannte Mikrobiom -, Insekten, Säugetiere wie zum Beispiel der Luchs und aasfressende Vögel wie der Bartgeier. Die Kadaver bieten ihnen Nahrung und dienen beispielsweise auch als Kinderstube für Insektenlarven. Durch die Überreste toter Tiere werden dem Boden außerdem wertvolle Nährstoffe zurückgeführt, wovon wiederum Pflanzen und Pilze profitieren.

Wisentkadaver sind von hohem wissenschaftlichen Interesse, da die Art seit mindestens 200 Jahren in der Region ausgestorben und die Rolle ihrer Kadaver im Ökosystem daher nicht bekannt ist. Außerdem weisen sie die höchste Biomasse aller Landsäugetiere in Europa auf.

Beobachtung des Zersetzungsprozesses über zwei Monate

Kadaverökologe Dr. Christian von Hoermann von der Universität Würzburg leitet das Projekt. Er und seine Kollegen haben die Zersetzung des Wisents nun über zwei Monate hinweg beobachtet. Dazu haben sie die Aufnahmen von Kamerafallen ausgewertet, Insekten mit Hilfe von im Boden vergrabenen Becherfallen gesammelt und Pilze und Bakterien mit Mundschleimhautabstrichen erfasst.

"Wir hoffen, mit unserem Projekt zeigen zu können, dass 'selbst' ein totes Wisent einen großen Mehrwert für die Diversität der Zersetzergemeinschaft im Ökosystem leistet", sagt Dr. Christian von Hoermann. "Die große tote tierische Biomasse erlaubt eine sehr hohe Individuenzahl an Aasbesuchern, was sich wiederum positiv auf die erfasste Zahl der Arten und somit auf den Erhalt und die Förderung der Biodiversität auswirkt."

Relevante Erkenntnisse für Forensik

Die erste insektenkundliche Auswertung nach 60 Tagen brachte den Erstnachweis der Schmeißfliege Chrysomya albiceps für den Šumava Nationalpark hervor. Die Art kommt in großer Zahl in Südeuropa, den orientalischen und tropischen Regionen vor. Als Teil der sogenannten dunklen Biodiversität tritt sie für Wissenschaftler erst dann in Erscheinung, wenn gezielt Wildtierkadaver in den unterschiedlichsten Lebensraumtypen während ihres Zersetzungsverlaufs ganzheitlich beobachtet werden – so wie im aktuellen Wisentprojekt. Für forensische Insektenkundler ist die Art von entscheidender Bedeutung: "Ihr aggressives larvales Fressverhalten könnte die postmortale Insektenuhr zurückdrehen, indem alle früheren Ankömmlinge beseitigt werden. Eine spannende Begebenheit aus dem Šumava-Nationalpark mit hoher Relevanz nicht nur für die ganzheitliche Erfassung der Biodiversität, sondern auch für die Aufklärung von Verbrechen", betont Dr. von Hoermann.

Geplant ist, das Projekt fortzusetzen und möglicherweise auch in anderen Schutzgebieten künftig Wisentkadaver auszulegen. Der Tiergarten Nürnberg würde hierfür weitere Tiere zur Verfügung stellen – vorausgesetzt, diese werden nicht im Rahmen des EAZA Ex-situ Programms (EEP) benötigt.

Erhaltung des Wisents: Erfolgsgeschichte im Artenschutz

Die Erhaltung des Wisents ist ein Paradebeispiel für erfolgreichen Artenschutz durch Zoos. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert stand die Art kurz vor der Ausrottung. 1919 wurde der letzte in der Natur lebende Flachlandwisent im Urwald von Białowieża erlegt, 1927 der letzte Bergwisent im Kaukasus. 1923 beschloss eine Gruppe europäischer Zoodirektoren und Wissenschaftler, den Europäischen Wisent zu retten. Eine wichtige Grundlage war die Einführung eines Zuchtbuchs durch die damals frisch gegründete "Internationale Gesellschaft zur Erhaltung des Wisents". Es entstand eine stabile Population, sodass aus den Nachzuchten in den 1950er-Jahren die erste Gruppe im polnischen Nationalpark Białowieża wieder angesiedelt werden konnte.

Heute, mehr als einhundert Jahre später, hat sich der Bestand der Wisente durch internationale Zucht- und Wiederansiedlungsprojekte erholt. Die Zucht wird inzwischen im Rahmen eines EAZA Ex-situ Programms (EEP) koordiniert. Mehr als 8.000 Tiere leben wieder in der Natur, vor allem in Polen und Weißrussland. Die wiederangesiedelten Bestände vermehren sich gut, sodass die Gesamtpopulation weiter steigt. Die Weltnaturschutzunion IUCN stuft den Wisent heute nur noch als "potenziell gefährdet" ein. Im Jahr 2000 galt er noch als "stark gefährdet".

Das größte Landsäugetier Europas lebt seit 1966 auch im Tiergarten der Stadt Nürnberg. Mit rund 100 Geburten hat auch der Tiergarten erfolgreich zur Zucht und damit zum Erhalt der Art beigetragen.