Sie stellt ein absolutes Naturjuwel dar, direkt vor der Haustür, ist weltweit einmalig und vom Aussterben bedroht (critically endangered): die Hohenester Mehlbeere (Sorbus hohenesteri). Diese Baumart wächst auf einer Felskuppe bei Forchheim: Ihre gesamte Population umfasst gerade einmal zehn Exemplare auf einer Fläche von vier Quadratkilometern, der Populationstrend ist nach Angaben der Weltnaturschutzunion IUCN abnehmend. Was also liegt näher, als dieser hochbedrohten Art im Tiergarten der Stadt Nürnberg Platz zu verschaffen?
Die Hohenester Mehlbeere ist ein eher kleiner, unscheinbarer und nur ein bis fünf Meter hoher Laubbaum. Sein winziges Verbreitungsgebiet liegt östlich des oberfränkischen Forchheim. Die Hohenester Mehlbeere wurde erst 1992 „entdeckt“ und von Norbert Meyer wissenschaftlich beschrieben. „Im Tiergarten Nürnberg haben wir das Artensterben und den Verlust der Biodiversität täglich vor Augen. Es sind globale Probleme, die mit dem Klimawandel die größten Herausforderungen für uns Menschen darstellen. Wir müssen handeln. Ohne Biodiversität verlieren wir unsere Lebensgrundlage“, sagt Jörg Beckmann, zoologischer Leiter und Vizedirektor des Tiergartens Nürnberg.
Bereits im Mai 2021 pflanzte Bürgermeister Christian Vogel im Tiergarten die Schnizlein Mehlbeere (Sorbus schnizleiniana), eine weitere bedrohte, ausschließlich in der Frankenalb vorkommende, endemische Art. Insgesamt bietet der Tiergarten Nürnberg derzeit sechs bedrohten Mehlbeerenarten einen neuen Standort. Das sind auch die Pannonische Mehlbeere (S. pannonica), die Harz Mehlbeere (S. harziana), die Kordigast Mehlbeere (S. cordigastensis) und die Donau Mehlbeere (S. danubialis).
Unterstützt wird der Tiergarten vom Botanischen Garten der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) – mit Pflanzen und umfangreichem Wissen. Denn im Erlanger Botanischen Garten werden die Pflanzen in so genannten Erhaltungskulturen gezüchtet, um das Überleben seltener Arten zu sichern. „Wir freuen uns sehr über die Kooperation unserer beiden Einrichtungen“, betont der Technische Leiter des Botanischen Gartens der FAU, Claus Heuvemann, und fügt hinzu: „Schließlich haben wir uns alle dem Artenschutz über Pflege und Vermehrung bedrohter Tier- und Pflanzenarten verschrieben. Ich hoffe, dass wir künftig weitere Möglichkeiten finden, diese Art der Kooperation noch weiter ausbauen können.“
Diplom-Biologin Andrea Kerskes von der Regierung von Mittelfranken erläutert: „Um das Risiko zu vermindern, dass diese seltenen Pflanzen zum Beispiel einer Krankheit zum Opfer fallen, ist es sinnvoll, die wenigen Individuen großflächig zu verteilen. Konzentrieren sich alle Pflanzen an einem Ort, so steigt die Aussterbewahrscheinlichkeit deutlich an.“ Hierzu können auch Risiken wie sogenannte Naturkatastrophen, etwa Überflutungen, Dürren oder Waldbrände beitragen. Aus demselben Grund verteilen Zoos die von ihnen im Rahmen von Erhaltungszuchtprogrammen gehaltenen bedrohten Tierarten über mehrere Länder.
Die Mehlbeeren haben gegenüber Zuchtprogrammen für Tiere den großen Vorteil, dass sie sich ungeschlechtlich vermehren und ihre Samen auch ohne Befruchtung keimfähig sind. Dabei tragen die Nachkommen exakt dieselben Erbinformationen wie ihr Mutterbaum. Pflanzen, die sich so fortpflanzen, nennt man Apomikten. So kann auch ein einzelner Baum einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt seiner Art leisten. Mehlbeeren benötigen viel Licht und sind aufgrund ihrer geringen Wuchshöhe gegenüber größer werdenden Arten nicht konkurrenzfähig. Früher wurden Arten wie die Mehlbeere durch die Bewirtschaftung der Wälder als sogenannte Nieder- und Mittelwälder gefördert. Die Bäume wurden regelmäßig „auf den Stock gesetzt“, also abgeschnitten, um Brennholz zu gewinnen. Dadurch wurden größere, die Mehlbeeren überragende Bäume beseitigt und es kam wieder Licht bis zum Boden. Durch Veränderungen in der Energieversorgung und Forstwirtschaft verlor diese Form der Waldnutzung jedoch an Bedeutung. Heutzutage gibt es bei uns nur noch kleine Reste von Nieder- und Mittelwäldern, die jedoch wegen ihrer hohen Strukturvielfalt und Biodiversität durch staatliche Naturschutzprogramme gefördert werden.
Auch Pflanzenarten sind zunehmend vom Aussterben bedroht. So sind laut IUCN derzeit zum Beispiel 34 Prozent aller Nadelbaumarten gefährdet, dagegen „nur“ 26 Prozent der Säugetiere. Dabei sind die Gründe für den Bedrohungsstatus bei Tier und Pflanze fast immer dieselben: eine nicht-nachhaltige Nutzung durch den Menschen sowie der Verlust des Lebensraums.