Ein Teil der Eisbärpopulation der Hudson Bay verbringt die nahrungsarme Zeit (von August bis September) in Erdhöhlen und hält eine Art „Sommerschlaf“. Bei schwangeren Weibchen kann es vorkommen, dass sie im Herbst gar nicht mehr aufs Eis gehen, um zu jagen, sondern gleich in der Höhle bleiben und ihren „Winterschlaf“ antreten. Andere Eisbären ziehen den Sommer über umher, ohne zu fressen. Für dieses Phänomen hat sich der Begriff des „walking hibernation“ eingebürgert, d.h. die Tiere laufen mit leicht abgesenktem Stoffwechsel herum.
Der Fachterminus könnte mit „Winterschlaf während des Laufens“ oder - was dem geheimnisvollen Tun vielleicht näher käme - mit „wandelnder Winterschlaf“ oder „Winterschlafwandeln“ übersetzt werden. Winterschlaf im Sommer? Kommt da begrifflich nicht einiges durcheinander?
Um die Konfusion komplett zu machen, gibt es innerhalb der Hudson Bay-Population aber auch Bären, die sich während des Sommers in den Sümpfen oder an den Müllhalden von Churchill aufhalten und durchaus Nahrung zu sich nehmen. Und hoch im Norden auf dem Eis jagen die Tiere den ganzen Sommer über Robben. Offensichtlich können die Eisbären zu jeder Jahreszeit selbst „entscheiden“, wann sie ihre Stoffwechselaktivitäten absenken und wann nicht.
Dies korrespondiert mit der Beobachtung, das männliche wie weibliche Eisbären z.T. über viele Wochen Schutzhöhlen aufsuchen, um Stürme, extreme Kälte oder Hitze sowie Perioden von Nahrungsmangel zu überstehen. Warum sollten sie in dieser Zeit nicht ihren Stoffwechsel herunterfahren, um Energie zu sparen? Vermutlich reichen sieben bis zehn Tage ohne Futter aus, um den Schalter umzulegen. Nach vergleichenden Untersuchungen an Schwarzbären und Grizzlys lassen sich bei Eisbären sogar vier physiologischen Stadien unterscheiden: Winterschaf, „walking hibernation“, Normalaktivität und Hyperphagia; unter letzterem versteht man einen Zustand erhöhter Nahrungsaufnahme zum Ansammeln von Fettreserven.
Aber was unterscheidet „walking hibernation“ vom Winterschlaf? Und welche Beziehungen gibt es zum Verhalten von echten Winterschläfern wie Igeln und Murmeltieren?
Die physiologischen Aktivitäten der Eisbären werden je nach Autor mit Begriffen wie Winterschlaf (engl. hibernation), „winter sleep“ (im Gegensatz zu hibernation), Winterruhe (im deutschen Sprachgebrauch), Sommerschlaf, Torpor, schwacher Torpor oder „walking hibernation“ umschrieben. Wir müssen uns also erst einmal in die Niederungen der Begriffsdefinition begeben.
Winterschlaf (Hibernation)
Winterschlaf ist ein jahreszeitlich gebundener physiologischer Zustand, mit dem die Tiere auf Nahrungsmangel reagieren. Dabei verringern Säuger (oder Vögel) Atmung, Herzschlag und Stoffwechselrate. Außerdem senken sie die Körpertemperatur freiwillig fast auf das Niveau der Umgebung ab. Einheimische Kleinsäuger erreichen 1°C bis 8°C, bei arktischen Erdhörnchen wurden sogar schon Körpertemperaturen von –3,6°C gemessen. Der „Schlaf“ ist nicht dauerhaft, sondern von vielen Aufwachphasen unterbrochen, in denen Körpertemperatur und Stoffwechsel Normalwerte erreichen. Während des Winterschlafes leben die Tiere vom Körperfett oder eingelagerten Vorräten.
Der Winterschlaf ist allerdings nicht auf kalte Klimazonen beschränkt. So konnte die Arbeitsgruppe um Prof. Heldmaier erstmals bei einem tropischen Säugetier einen echten Winterschlaf nachweisen. Sogar bei einem Primaten, dem Fettschwanzmaki Cheirogaleus medius aus Madagaskar. Der Halbaffe schaltet seine Wärmeregulierung für sieben Monate ab und lässt – wie bei Amphibien oder Reptilien - die Körpertemperatur mit der Umgebungstemperatur um ca. 15°C schwanken. An warmen Tagen hält er demnach bei über 30°C Winterschlaf.
Über die Auslöser des Winterschlafs wird noch intensiv geforscht. Vermutlich spielt die vom Tageslicht (und damit jahreszeitlich) regulierte „innere Uhr“ eine große Rolle. Sie könnte auch für die Bildung von Fettdepots verantwortlich sein. Die einzelnen physiologischen Veränderungen werden dann durch Hormone ausgelöst.
So scheint das Hormon HIT (Hibernation Induction Trigger) den Winterschlaf einzuleiten, indem es Atmung, Herzschlag und Wärmeproduktion zurückfährt. Geringe Mengen des „Winterschlafhormons“ sind auch im Blut von Eisbären nachweisbar.
Winterruhe
Schwangere Eisbären „überwintern“ mit eine Körpertemperatur von 35-37°C. Generell senken Bären Kerntemperatur und Stoffwechsel nicht so stark, wie echte Winterschläfer und können daher gefährlich schnell aus ihrer Lethargie erwachen. Die Weibchen benötigen die Kerntemperatur von 35-37°C, weil sie in der Höhle gebären und säugen müssen, damit die Jungen im nahrungsreichen Frühjahr groß genug sind.
Bei Bären spricht man deshalb nicht von Winterschlaf, sondern von Winterruhe. Physiologisch ist es aber fast dasselbe. Betrachtet man den Stoffwechselumsatz von Siebenschläfern und Bären pro Kilogramm Körpergewicht, erkennt man kaum einen Unterschied. Wegen ihrer geringen Oberfläche und dem dicken Fell ist es den Bären aber nicht möglich, ihre Kerntemperatur unter ca. 32°C abzusenken, wie dies Kleinsäugern können.
Sommerschlaf (Estivation)
In unseren gemäßigten Breiten tritt Nahrungsmangel meist im Winter auf. In anderen Gegenden muss man den Gürtel dagegen in der sommerlichen Trockenzeit enger schnallen. Diese Phase wird z.B. von den Erdhörnchen der Mohave-Wüste in einem Starrezustand überbrückt, der dem europäischer Winterschlaf ähnelt. Die Körpertemperatur sinkt allerdings nur auf 20-30°C ab, weil die Umgebung eben nicht kälter wird.
Torpor, Torpidität (Hungerstarre)
(z.T. auch als Kälte- oder Hitzestarre, bzw. Kälte- oder Hitzeschlaf bezeichnet)
Im Gegensatz zum Winter- oder Sommerschlaf beschreibt der Torpor einen vergleichsweise kurzfristigen Zustand der körperlichen Inaktivität (Starre, Lethargie), der nicht jahreszeitlich gebunden ist und auf den sich die Tiere nicht vorbereiten müssen. Der „Energiesparmodus“, bei dem alle Körperfunktionen auf Sparflamme gehalten werden, kann jederzeit durch Nahrungsmangel ausgelöst werden und einige Stunden bis mehrere Wochen andauern. Es gibt aber auch Autoren, die das Absenken von Stoffwechselrate und Körpertemperatur generell als Torpor bezeichnen und ihn z.B. mit dem physiologischen Zustand des Tieres während des Winterschlafs gleichsetzen.
Manchmal lassen sich die Vorgänge in der Natur eben nur schwer kategorisieren. Vielleicht sollte man sich darauf einigen, die Begriffe Winter- und Sommerschlaf nur bei jahreszeitlich festgelegtem Verhalten anzuwenden und alle fakultativen „Energiesparmodi“ unter den Terminus Torpor zu fassen.
Schwangere Eisbären halten demnach Winterschlaf, wobei – je nach Gewichtung der Unterschiede – auch die Bezeichnung Winterruhe sinnvoll ist. Dabei leben die Weibchen teilweise bis zu acht Monate von ihren Fettreserven, nehmen weder Nahrung noch Flüssigkeit zu sich und müssen folglich auch nicht urinieren oder koten. Ihre Herzschlagrate geht auf acht bis zehn Schläge pro Minute zurück.
Darüber hinaus können weibliche wie männliche Eisbären zu jeder Jahreszeit in einen physiologischen Fasten- und Energiesparzustand verfallen, der etwas unglücklich als „walking hibernation“ bezeichnet wurde. Da er vermutlich durch Gewichtsabnahme in Folge von Nahrungsmangel ausgelöst wird, könnte man das Verhalten z.B. mit „Hungerwandeln“ umschreiben.
Vergleicht man das „Hungerwandeln“ mit anderen Formen des „Standby-Betriebs“ im Tierreich, ist die Bezeichnung Torpor angebracht, da es zunächst einmal keine jahreszeitliche Bindung gibt. Die Bären bereiten sich nicht wie auf einen Winterschlaf vor und das Verhalten hält höchstens einige Wochen lang an. Im Gegensatz zu anderen Formen der Torpidität bei Vögeln und Säugern verhalten sich Eisbären während dieser Zeit nicht völlig inaktiv. Der deutsche Begriff „Hungerstarre“ wäre in diesem Fall irreführend.
Mathias Orgeldinger